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„Rechtsanspruch allein reicht nicht aus!“

Zahl der durch soziale Umstände beeinträchtigten Kinder steigt

„Wir haben innerhalb eines Jahres über dreißig Kinder mit zusätzlichem Förderbedarf und ihre Familien intensiv begleiten und fördern können. Die Ergebnisse sind überwältigend: Es gibt deutliche Erfolge und eine neue Sensibilität in unseren Einrichtungen für den Umgang mit Auffälligkeiten bei Kindern“, sagt Bad Godesbergs Dechant, Dr. Wolfgang Picken.

„Allerdings müssen wir auch feststellen, dass die Zahl der Kinder, die durch ihre sozialen Umstände Beeinträchtigungen erleben, alarmierend wächst.“ Das sind Erfahrung, die das Kindergartennetzwerk Bad Godesberg nach einem Jahr heilpädagogischem Beratungs- und Förderdienst macht.

„Das Bild von Auffälligkeiten und Behinderungen hat sich deutlich verändert. Wir machen die Erfahrung, dass Platzanfragen für Kinder mit klassischen Behinderungsbildern abnehmen, dafür aber für Kinder mit sozial bedingten Auffälligkeiten und Förderbedarfen deutlich zunehmen“, analysiert Dechant Picken. Der studierte Politik- und Sozialwissenschaftler weist darauf hin, dass sich aufgrund dieser Tendenz die Aufgabe und Verantwortung in den pädagogischen Einrichtungen verändert hat. „Hier braucht es mehr Aufmerksamkeit und Qualifikation, um den Kindern gerecht zu werden und zusätzlichen Förderbedarf frühzeitig feststellen zu können“, so Dechant Picken. Das sei besonders auch deshalb zunehmend von Bedeutung, weil die Kinder immer früher in die Kindertagesstätten aufgenommen werden und dort immer mehr Stunden pro Woche bleiben. Die Tendenz geht zu einer 45-Stundenbetreuung für Kinder von einem halben Jahr bis zu sechs Jahren. „Früher sprach man von familienbegleitender Erziehung. Heute müssen wir fast von einer familiengleichen oder teils auch -ersetzenden Pädagogik sprechen“, führt der Godesberger Pfarrer weiter aus. „Es ist aufgrund des frühen Aufnahmealters der Kinder in vielen Fällen so, dass erst Auffälligkeiten und zusätzlicher Förderbedarf nach Eintritt in die Kindertagesstätte erkannt werden. Umso bedeutsamer sind Früherkennung und Therapie in den Regeleinrichtungen.“ Allerdings seien die meisten Kindertagesstätten mit dieser neuen Aufgabe überfordert. „Das pädagogische Personal ist darauf fachlich nicht vorbereitet. Es kann mit seiner bereits ausgefüllten Arbeitszeit den erweiterten Bedarf kaum auffangen“, weiß Dechant Picken zu berichten. „Es braucht also heilpädagogische und therapeutische Kompetenz in den Regeleinrichtungen, wenn wir auf Dauer dem Auftrag nachkommen wollen, unsere Kleinen gut ins Leben zu begleiten“, weiß er sich mit Sonja Velten, Kindergartenkoordinatorin in Bad Godesberg, einig. Zusammen mit der gelernten Erzieherin und Heilpädagogin hatte sich der Godesberger Dechant entschieden, Deutschlands ersten heilpädagogischen Beratungs- und Förderdienst eines freien Kindergartenträgers einzurichten. Die Bürgerstiftung Rheinviertel setzte das Projekt unkonventionell und kurzfristig um und fördert es bis heute.

„Je früher zusätzlicher Förderbedarf aufgedeckt werden kann, umso eher kann eine entsprechende Förderung für das Kind einsetzen“, so Velten. „Weiterhin ist es auch unser gemeinsamer Wunsch mit vielen Eltern, dass Kinder, bei denen zusätzlicher Förderbedarf festgestellt wurde, in ihren Einrichtungen verbleiben können und nicht in eine Sondereinrichtung wechseln müssen. Dabei ist es das Beste, die gezielte Förderung in den Kindergartenalltag zu inkludieren. Umso alltagsorientierter Förderung ist, desto wirksamer ist diese!“ Aktuell ist für viele Kindergärten eine zusätzliche Förderung im Rahmen von vereinzelten Einzelintegrationen kaum darstellbar. Der Aufwand ist hoch und es ist schwierig, für geringe Stundenumfänge Fachpersonal zu finden. „Das ist die Chance eines größeren Zusammenschlusses von Einrichtungen. Für unsere 14 Kindertagesstätten, in denen 655 Kinder betreut werden, war er darstellbar, einen solchen Fachdienst zu installieren“, berichtet Dechant Picken. Ab dem Oktober dieses Jahres wird ein Team aus Heilpädagoginnen und Therapeutinnen in Teilzeit tätig sein. Der Dienst hatte vor einem Jahr mit einer Mitarbeiterin seine Arbeit aufgenommen. Die Jahresstatistik der Godesberger Initiative belegt die Notwendigkeit. „Innerhalb eines Jahres gezielter Diagnostik stieg die Anzahl genehmigter Einzelintegrationen von null auf sieben Kinder. Diese Kinder wurden bisher in den Einrichtungen ohne weitere Förderung mit betreut. Heute erfahren sie zusätzliche Hilfen und damit bessere Entwicklungschancen“, berichtet Gertrud Lindlar, die Leiterin des Beratungsdienstes in ihrem Rückblick. Einzelintegrationen können bei der Stadt beantragt werden. Für sie werden zusätzliche Personalstunden finanziert. „Wir übernehmen das Antragsverfahren, dem eine umfassende Diagnose vorausgeht“, schildert Lindlar. Dabei macht man in Godesberg sehr gute Erfahrungen mit den zuständigen Stellen der Stadt Bonn, sowie in der Kooperation mit den entsprechenden Ärzten und Diagnostik- und Therapiezentren. „Man ist hier sehr an jeder möglichen Hilfe interessiert und unterstützt unsere Initiative“, sagt sie weiter. „Es liegt nicht daran, dass keine Gelder zur Verfügung stehen würden. Für viele Träger ist es zu aufwendig, die Verfahren zu führen und mit den zur Verfügung gestellten Mitteln entsprechende Förderung zu gewährleisten“, führt Dechant Picken aus. „Das ist der Vorzug unseres übergreifenden Dienstes. Er organisiert die Inklusion und wird dabei selber tätig.“

Einen besonderen Schwerpunkt legt man in Bad Godesberg im Sinne der Inklusion auch darauf, dass die Erzieherinnen in den Einrichtungen befähigt werden, noch besser die Auffälligkeiten erkennen und auf sie reagieren zu können. „Oft wird der Dienst zur Konsultation in die Einrichtung gebeten. Eine Erzieherin schildert ihre Beobachtungen und wir schauen dann gemeinsam auf das Kind. Vielfach können wir mit der Erzieherin eine gemeinsame Einschätzung vornehmen und eine Förderung besprechen, die von ihr selbst unterstützend vorgenommen werden kann“, berichtet Lindlar. So können auch die Kinder gefördert werden, für die eine Einzelintegration nicht angemessen wäre, die aber zusätzlicher pädagogischer Unterstützung bedürfen. Bedeutsam für den Fachdienst ist nicht zuletzt die Kooperation mit den Eltern. Hier macht man in Godesberg gute Erfahrungen: „Auch bei den Eltern finden wir eine hohe Akzeptanz. Die Elternberatung und Begleitung spielt hier eine große Rolle. Wir unterstützen bei Klinik- und Arztbesuchen und Antragsstellungen. Die Eltern beruhigt, dass sie kompetente Ansprechpartner haben und ihr Kind im Alltag entsprechende Förderung erhält“, so Lindlar. Am häufigsten werden Auffälligkeiten im Bereich der Motorik, der Wahrnehmung und der Sprache, sowie im sozial, emotionellen Bereich festgestellt. „In diesen Bereichen können wir gute heilpädagogisch, therapeutische Förderung in den Kitaalltag integriert anbieten“, sagt Koordinatorin Velten. Die Zahl der Kinder, die solche Förderung benötigt, wächst aber stetig an. Gegenwärtig erfahren allein 25 Kinder eine gezielte Sprachförderung. „Unsere Erfahrungen belegen, wie notwendig ein Umdenken in der Kinderpädagogik ist. Wir dürfen den entsprechenden Kindern die erforderliche Förderung nicht vorenthalten. Wenn Chancengleichheit in unserem Land keine Worthülse sein soll, braucht es zukünftig entsprechende Fachkräfte in allen Kindertagesstätten, zumindest aber einrichtungsübergreifende, heilpädagogische Beratungs- und Förderdienste“, verdeutlicht Wolfgang Picken. Gerade der Bereich der Sprachförderung sei für eine gleichberechtigte, gesellschaftliche Teilhabe und eine gute Vorbereitung auf Schule besonders wichtig, ergänzt der Dechant. „Weil wir als Kirche ganzheitlich auf das Kind schauen, haben wir diese Initiative gestartet. Unser Modell ist ein Pilotprojekt und sollte bundesweit Schule machen“, resümiert Godesbergs Pfarrer.

Abschließend mahnt Dechant Picken ein Innehalten und generelles Umdenken an. „Die Brüche in den Ehen und Familien, auch der hohe Leistungsdruck, dem sich viele ausgesetzt sehen, hat schwerwiegende Folgen für unsere Kinder. Sie bezahlen nachhaltig für die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Die Kinder heilpädagogisch zu unterstützen, ist das eine. Das sollte selbstverständlich sein! Aber wichtiger ist, dass wir unsere moderne Lebensweise in Frage stellen und ändern. Denn die Art, wie wir leben, beeinträchtigt auf negative Weise und nachhaltig die zukünftigen Generationen! So kann es nicht weiter gehen“, lautet der Appell des katholischen Priesters und Politologen.